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«BOTOX IST DAS PENICILLIN DES 21. JAHRHUNDERTS
GEGEN HARNINKONTINENZ»

Interview mit Prof. Dr. med. Brigitte Schurch, Fachärztin für
Blasenstörungen werden bis heute in der Medizin eher
Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH, spez. Neurourologie stiefmütterlich behandelt. Was hat Ihr Interesse geweckt?
Zum einen bin ich früh mit querschnittgelähmten Personen in
Betroffene – und davon gibt es quer durch alle Altersklas-
Kontakt gekommen. Zum anderen hat Neurourologie nicht nur sen viele – reden nicht über ihre Blasenschwäche. Daher
mit Urologie zu tun, sondern auch mit vielen anderen medizi- erhalten sie vielfach auch keine adäquate Therapie,
nischen Fachgebieten, wie etwa der Neurologie, Radiologie oder obwohl die Medizin in der Behandlung dieses Leidens
Wirbelsäulenchirurgie; das hat mich fasziniert. Wenn man das enorme Fortschritte erzielt hat. Prof. Dr. med. Brigitte
Metier richtig beherrscht, dann ist das Ergebnis für die Patienten Schurch, Fachärztin für Physikalische Medizin und Rehabi-
sehr zufriedenstellend. Man verzeichnet grosse Erfolge, welche litation FMH, spez. Neurourologie, erklärt Ursachen,
den Patienten ein Stück ihrer Lebensqualität zurückgeben.
Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten.
Muss eine Blasenschwäche ab einem bestimmten
Frau Prof. Schurch, Sie werden gerne als «Mutter der
Zeitpunkt im Leben hingenommen werden?
Neurourologie» bezeichnet. Warum?
Nein, das wäre ein fataler Irrtum. In der Neurourologie und der Ich war schweizweit eine der ersten Ärztinnen, die sich mit dem Urologie haben wir in den letzten 10 Jahren enorme Fortschritte Thema Neurourologie befasst haben. Das war etwa 1988, unmit- in der Behandlung von Blasenstörungen erzielt. Man sol te sie telbar nach meiner Oberarztzeit, und ich war die Erste in der Schweiz, die in Neuro- urologie habilitiert hat. In der Zwischenzeit noch immer tabuisiert ist. Eine Abklärung habe ich unzählige Publikationen veröffent- lohnt sich und ist besser, als das ganze licht und war in die universitäre Forschung tinenz eingebunden. Ich habe mehr als 40 Urologen in der Neurourologie ausgebildet, 20 Dissertationen Was ist für die Betroffenen am einschneidendsten?
abgenommen, und 3 Fachärzte haben bei mir habilitiert.
Eine Blasenstörung hat einen grossen Einfluss auf die Lebens-qualität und das gesellschaftliche Leben. Die Betroffenen Können Sie den Begriff Neurourologie kurz erläutern?
schämen sich und gehen ungern in die Öffentlichkeit, aus Die Neurourologie ist die Kombination aus den Fachgebieten Angst, dass sie nach Urin riechen respektive nicht rechtzeitig Neurologie, welches sich mit den Erkrankungen der Nerven eine Toilette erreichen. Sie kennen wegen dieser Unsicherheit beschäftigt, und Urologie, das die Erkrankung der harnbildenden und -ableitenden Organe umfasst. Die Neurourologie verbindet die Fachkompetenz von beiden Gebieten. Es handelt sich um die Welches sind die Ursachen einer Blasenstörung?
Abklärung und Behandlung al er Störungen der Harnblase und Der Harntrakt besteht aus der Harnblase und dem Schliessmus- des Blasenschliessmuskels im Rahmen einer neurogenen Blase. kel. Ein Netzwerk aus vegetativen und willkürlich steuerbaren Bis Ende Jahr soll die Neurourologie zur offiziell anerkannten Nervenbahnen ermöglicht es, dass Blasen- und Schliessmuskel richtig funktionieren. Die Ursache der Inkontinenz kann in einer Störung der Blase, des Blasenschliessmuskel-Apparats oder beim Nervensystem liegen. Bei Störungen des Nervensystems spricht man von einer neurogenen Blase. Bei nicht neurogenem 6 MITTELPUNKT 3/2011
HARNINKONTINENZ
(lat. incontinentia urinae): Verlust oder das Nichterlernen der Fähigkeit, Urin sicher in der Harnblase zu speichern FORMEN VON INKONTINENZ
Belastungsinkontinenz: Tritt auf bei Tätigkeiten, wie Heben, Tragen,
Treppensteigen, Lachen oder Husten. Ursache ist eine Schwächung
der Blasenmuskulatur. Sie kann junge Frauen nach einer Geburt eben-
so treffen wie ältere Personen.
Überaktive Blase, auch Reizblase genannt: Plötzlicher, häufiger
Harndrang, der die Lebensqualität beeinflusst. Ursache ist eine
Fehlfunktion der Blasenmuskulatur.
Neurogene Blase: Ursache ist eine Erkrankung des Nervensystems.
Betroffen sind vor allem Patienten mit einer Querschnittlähmung,
mit multipler Sklerose, Parkinson und Diabetes mellitus sowie Patien-
ten, die einen Schlaganfall, eine Schädel-Hirnverletzung oder einen
Beckenbruch erlitten haben. Probleme können auch nach Bandschei-
ben-Vorfällen und nach Operationen an Wirbelsäule, Gebärmutter,
Prostata oder Dickdarm auftreten.
Ursprung unterscheidet man zwischen einer Harninkontinenz bei druckmessung Aufschluss darüber, wann der Harndrang überaktiver Blase und einer Belastungsinkontinenz. Eine Blasen- einsetzt oder wie das Zusammenwirken von Blase und Schliess- schwäche kann al e treffen, Jung und Alt, Männer und Frauen.
muskel funktioniert. Häufig werden zusätzlich ein Ultraschall der Blase durchgeführt und die Nieren überprüft, da diese bei Über welche Behandlungsoptionen verfügt die
einer langen Inkontinenz Schaden nehmen können. moderne Medizin?
Die Therapie richtet sich nach der Art der Blasenstörung: Ver-
Welche der Therapien war für Sie die grösste Innovation?
einfacht kann man sagen, dass bei einer Reizblase versucht wird, Die Injektion von Botox® in die Blasenwand – es ist das Penicillin den Blasenmuskel zu beruhigen, bei einer Belastungsinkonti- des 21. Jahrhunderts gegen die Harninkontinenz! Die meisten nenz, den Schliessmuskel zu kräftigen, und bei einer neuroge- neuro-urologischen Patienten haben eine neurogene Reizblase. nen Blase, das Nervensystem zu beeinflussen. Im Gegensatz zu Sie nehmen verschiedene, häufig hochdosierte Medikamente zu früher haben wir heute sehr viele Behandlungsmöglichkeiten, sich, sodass es zu Nebenwirkungen kommt. Botox® wird direkt darunter Medikamente, Beckenbodentraining, Injektionen von in den Blasenmuskel gespritzt, 1 Mal in 9 Monaten, und es Botulinumtoxin (Botox®) in die Blasenwand, Elektrostimulation, löst keine Nebenwirkungen aus. Ab Mitte 2012, so hoffen wir, Neuromodulation oder operative Verfahren. Dies sind alles The- sollten die Kosten der Botoxbehandlung von den Krankenkassen rapiemöglichkeiten, die weniger als 10 Jahre alt sind. Entschei- dend für die Wahl der Therapie sind das Alter, die Diagnose und auch die Einstellung bzw. die Lebensumstände des Einzelnen. Welchen Tipp geben Sie Betroffenen?
Die Betroffenen sollten wissen, dass es für sie eine Therapie gibt
Können Sie dies erläutern?
und dass sie ihr Leiden abklären lassen sollten. Wichtig ist, dass Der Arzt muss immer zuerst die Indikation prüfen, die mögli- sie nicht zu lange warten, denn gerade bei einer neurogenen chen Verfahren gegeneinander abwägen, den Dialog mit dem Krankheit verschlechtert sich die Allgemeinsituation und damit Patienten suchen und mit ihm die Vor- und Nachteile bespre- auch die Blasenfunktion. Regelmässige Kontrollen sind ausser- chen. Das Beckenbodentraining kann für einen jungen Patienten dem wichtig, denn die Situation könnte sich ändern und ent- eine geeignete Massnahme sein, z. B. in Kombination mit Medi- sprechend wird man auch die Therapie anpassen. kamenten, nicht aber für eine 80-jährige Person mit körper-lichen Einschränkungen. Manche Patienten möchten z. B. lieber Botox® und keine Neuromodulation, da sie diese als Fremd-körper empfinden. Bei der Neuromodulation werden über ein MITTELPUNKT SERVICE
kleines, implantiertes Gerät Stromimpulse via Elektrode an die Blase abgegeben. Wie erfolgt die Diagnose?
Prof. Dr. med. Brigitte Schurch, Fachärztin für Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH, Entscheidend ist das Gespräch mit dem Patienten, um das Prob- lem zu fassen. Der Patient erhält dann ein Tagebuch, in dem er vermerken muss, wie viel er getrunken hat, wie oft ein Gang zur Toilette nötig war und ob Inkontinenz aufgetreten ist. Wir führen einen Urintest durch, um Infekte auszuschliessen, sowie Praxisadresse
eine urologische und neurologische Untersuchung. Anschlies- KontinenzZentrum Hirslanden, Lengghalde 6, CH-8008 Zürich send gibt eine Blasen- zusammen mit einer Schliessmuskel- 7 MITTELPUNKT 3/2011

Source: http://www.hirslanden-bibliothek.ch/uploads/media/Mittelpunkt_2011_03_Harninkontinenz.pdf

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